Ich kann "Tagrichter" leider nur 3 Punkte in der Bewertung verleihen, da die Meinung, die ich von dem Roman habe, sehr zwigespalten ist. Da der Roman schon etwas älter ist, gehe ich mehr ins Detail.
Als wirklich sehr stimmungsvoll und ungemein lebensnah empfinde ich das Sittengemälde, das Dorothea Bergermann in Elenvina entstehen lässt.
- Zum einen finde ich die Darstellung der Praios-Gläubigen sowie der beiden Inquisitoren Praiodan und Aureolus richtig genial, von denen der eine als so konservativ und streng in der Auslegung des Glaubens dargestellt wird, dass er schon fast "auf der Gegenseite wieder ankommen", und dem anderen, der wesentlich volksnäher ist und er sich mit der Frage auseinander setzt, was Recht, Gerechtigkeit und Anstand ist. Der Roman zeigt, dass Praios-Gläubige zum normalen Alltag der Stadt Elenvina gehören, dass Inquisitoren hin und wieder auch nur normale Männer sind, die gerne mal einen Wein im Gasthaus trinken, und die in anderen Romanen oft klischeehaft nur als blutrünstig und grausam dargestellten "Geißler" nicht unbedingt so grausam sein müssen.
- Zum anderen ist die Darstellung der unteren Schicht der Bevölkerung einfach nur genial dargestellt. Dorothea Bergermann besitzt meiner Ansicht nach das einzigartige Talent, in einer mittelalterlichen Fantasy-Welt alltägliche Szenen ganz toll ins Licht zu rücken und einem so das alltägliche Leben richtig nahe zu bringen. Besonders gelungen und rührend finde ich die Stelle, in der Phejanca (Danke für diesen tollen Char!!!) die Prostituierte Jana sowie ihr Neugeborenes unter ihre Fittiche nimmt (S. 242-247). Ich wusste zwar, dass Leibeigenschaft und die damit verbundenen Rechte & Pflichten von Herrn & Leibeigenen in Aventurien durchaus eine Rolle spielen, aber ich habe sie noch nirgendwo so gelungen und rührend thematisiert gefunden. Auch die Darstellung der neuen Herrin Phejanca, die beide gegen bare - und nicht umsonst aus purer Nächstenliebe - Münze aufnimmt, ist im Sinne des Phexglaubens sehr authentisch.
- Als weiteren Punkt, den ich lobe, möchte ich den Dienst an den Göttern hervorheben. Sei es das Wirtshaus mit unzähligen Kindern, das als Phextempel dient, die vielen Momente, in denen Phex oder Tsa angerufen werden und in denen der Leser spürt, dass die beiden ihren Gäubigern zur Hilfe eilen, die Liturgien, die gewirkt werden, der stimmungsvolle Moment, in denen ein neuer Phex-Akuloth geweiht wird - ich habe tolle Inspirationen bekommen, wie ich künftig das Beisein eines Gottes schildern oder darstellen kann, was eigentlich bei einer Liturgie für die Anwesenden seh- und spürbar wird. Als beispielhaft genial möchte ich die Heilung durch eine Tsa-Geweihte bezeihnen (S. 176-183) Noch nie habe ich eine so bildhafte Darstellung gefunden.
Nun aber zu dem, was ich neben allen Lobpreisungen wirklich kritisiere:
- Ich finde die Handlung schwach. Die Protagonisten zerteilen sich gleich am Anfang und folgen ihrem eigenen Antrieb, der für mich auch nicht ganz so glaubhaft wie im ersten Roman ist. Meiner Ansicht nach hätten die 380 Seiten halbiert werden können, teilweise dachte ich, der Autorin sind die Ideen für den Plot ausgegangen oder sie zieht absichtlich alles in die Länge. Hätte ich die Darstellung des gemeinen Volkes nicht so toll gefunden, hätte ich den Roman nach der Hälfte in die Ecke gefeuert.
- Was ich aber richtig missraten finde, ist die Darstellung und Sprache der Jugendlichen bzw. jungen Praios-Gläubigen. Sie werden nicht nur umgangssprachlich von den jungen Phex-Gläubigen als "Prangies" bezeichnet
sondern sagen an diversen Stellen "frostig", was Dorothea Bergermann wohl als "mittelalterliches Pendant" zu "coll" empfindet.
Diese pseudo-jugendlich-coole Sprache wirkt auf mich derart deplaziert, dass mir die Worte fehlen, um mich weiter aufzuregen.
Was das Fazit angeht, so kann ich schwer eins fällen. Für denjenigen, der einen spannenden Handlungsverlauf wünscht, ist der Roman glaube ich nichts. Ob man sich wirklich 380 Seiten antun möchte, um eine tolle Darstellung des Götterdienstes oder Sittengemäldes von Elenvina zu haben.... Naja, habe ich gemacht, muss jeder für sich selbst entscheiden.