RvB hat geschrieben: ↑25.03.2023 21:19
Aber vielleicht führt dieses Gedankenspiel* auch zu weit ab vom Thema. Ich fand es in diesem ganzen Kontext nur einfach interessant. Wenn ein solches Kind nämlich auf diese Weise zustande kommt, wird der örtliche Travia-Geweihte vielleicht empört gucken, wenn er den Babybauch sieht, aber das Kind hat ganz zweifellos zwei liebevolle Mütter, die es beide wollten und sogar absichtlich auf diese Weise eine Familie gegründet haben. [...] Da gibt es doch wenig Handhabe, das als nicht traviagefällig auszulegen? Das war einfach mein Gedanke.
Eine derart pragmatische Perspektive muss nicht dogmatisch ausgeschlossen werden; und ist dies meines Wissens für die Traviakirche auch nicht in Gänze. Vielmehr dürfte hier ein Spektrum existieren, nach dem ein lokal verantwortlicher Priester ermessen mag, was angemessen oder Travia gefällig sein mag und was nicht. Die Auslegungen sind hier - wie es die angeführten Beispiele andeuteten - in den offiziellen Publikationen mannigfaltig.
Bei aller Pragmatik sollte aber nicht vergessen werden, dass viele aventurische Denkweisen (wie auch irdische) nicht unbedingt rational sind. Die Ständegesellschaft z.B. fußt auf einer irrationalen Zuschreibung der Bedeutung von Geburt (oder Blutlinien). Und so wie dem adligen Kind Praios gefällig die omninöse Bestimmung zur Herrschaft zugeschrieben wird, mag dem leiblichen Kind zweier Eltern (oder umgekehrt: diesen in ihrer Beziehung zum gemeinsamen Kind) die ominöse Bedeutung von Traviagefälligkeit zugeschrieben werden. Die leibliche Vereinigung und der gemeinsame Spross bieten zumindest eine materielle Grundlage für derlei "Aberglaube", respektive eben: Zuschreibung, soziale Konstruktion. Die anderweitige Idee, eine Familie funktional zu definieren und die füreinander sorgende Gemeinschaft statt die Blutsverwandtschaft zu fokussieren, ist irdisch noch immer nicht unumstrittenes Gemeingut, nicht in Deutschland (oder dem liberalen Westen), noch gar nicht global menschheitlich. Wir pflegen auch ganz selbstverständlich bzw. noch viel weniger hinterfragt das Sozialkonstrukt, dass im Ergebnis des Geburtenlottos ein einzelner Mensch ansonsten unverdient Milliarden erben darf, was letztlich auch ein feudales Rudiment der gemeinhin übverunden geglaubten Ständegesellschaft ist, die im Grundsatz aus Geburt ein individuelles Sonderrecht ableitet. Insofern ist der Spielraum der Auslegung, was gemäß einer fiktiven Glaubensgemeinschaft, die sich im Besonderen der Familie widmet, als dogmatisch gelten soll, muss oder kann, groß. Durch Leerstellen der offiziellen Setzungen oder auch entgegen fixierten Bestimmungen (die ja immer nur zur Orientierung dienen können, keinen irgendwie gearteten Gesetzescharakter haben) ist reichlich Gestaltungsraum gegeben, eine Traviakirche nach eigenem Gutdünken zu imagieren.
Da vormals die Sprache auf Homosexualität unter Novadis kam: In
diesem knappen Artikel (ausführlich in:
Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, S. 268 ff.) führt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer aus, dass zumindest Homoerotik in vielen islamischen Gesellschaften erst dann ein Problem wurde, als die westlichen Gesellschaften es im 19. Jahrhundert kulturell als solches exportierten - indem sie jenseits bloßer Erotik und dem Sex als Akt eine Sexualität als Veranlagung definierten, was ganz offensichtlich zuvor nicht selbstverständlich, geschweige denn notwendig war (und ebenfalls noch immer "abergläubisch" mit identifikatorischer Bedeutung angereichert wird).