Gibst du mir mal ein Beispiel, warum es nötig sein sollte, dass Spieler sich "fair" verhalten, also in welcher Situation oder Konstellation und wem genau gegenüber?Towe hat geschrieben: ↑30.09.2021 13:09 Frei interpretierbare Regeln haben halt den Nachteil von verschiedenen Menschen unterschiedlich interpretiert zu werden, da (und eigentlich auch sonst) empfinde ich es als angenehm wenn der Spielleiter eine Schiedsrichter-Rolle einnimmt, dann müssen die Spieler in brenzligen Situationen auch nicht so darauf achten sich 'fair' zu verhalten.
Ich glaube nämlich, hier kommen wir einem sehr entscheidenden Aspekt von Erzählrollenspiel sehr nahe: Erzählrollenspiel geschieht gemeinsam. (Jetzt ist "gemeinsam" natürlich schnell eine Floskel, und jedes Spiel ist irgendwie gemeinsam aber mir fällt spontan kein anderer Begriff ein.) Beim Erzählrollenspiel gibt es eine unausgesprochene Übereinkunft, dass ich gemeinsam daran arbeite, eine unterhaltsame, spannende, herausfordernde Erzählung/Geschichte zu kreieren.
Ich spiele nicht "mich", den Avatar des Spielercharakters, sondern ich trage gemeinsam mit den anderen zu einer Erzählung bei. Selbst wenn mein Spielercharakter sich gegenüber den anderen Figuren der Gruppe vielleicht unfair verhält, dann tut er das nicht, weil ich gerade einen Vorteil für mich darin sehe oder auch nicht weil ich jetzt entscheiden habe, ich will das einfach so spielen, sondern weil ich in diesem Moment das Gefühl habe, dass das die Story und den Plot vorantreibt und allen am Tisch Spaß macht. Ansonsten mache ich es einfach nicht.
Es braucht gar keinen Schiedsrichter, es braucht auch keinen Entscheider, weil niemand am Tisch ein Problem damit hat, kurzfristig (im Sinne einer spannenden Dramaturgie) zu scheitern; im Gegenteil, das ist Teil des Spaßes, zu dem ich mich bewusst entscheiden habe, als ich mich an den Tisch gesetzt habe.
Und das ist, glaube ich, ein Unterschied zu einem Rollenspielsystem, das stark auf taktischen Regeln oder simulationistischen Regeln basiert: Diese Regeln laden dazu ein, zu "gewinnen". Das ist der logische Reflex. Ein Brettspiel möchte ich bitte gerne gewinnen, sonst macht es keinen Spaß, zu spielen. Da sind Regeln, und die geben den Rahmen vor, wie wir gewinnen können oder ich gewinnen kann. Nicht zwangsläufig gegen die Mitspieler, aber auf jeden Fall "gegen das Spiel". Das Spiel setzt mir Regeln vor, die meine Werkzeuge sind, mit denen ich "das Spiel" gewinnen kann, indem ich die Regeln möglichst schlau anwende. Wenn ich herausfinde, dass ich eine Regel besonders gut zu meinen Gunsten nutzen kann, dann ziehe ich daraus Genugtuung und werde sie so anwenden. Wenn ich herausfinde, dass bestimmte Sonderfertigkeiten "stärker" sind (weil sie innerhalb des Regel-Sets eine bessere Auswirkung haben), dann wähle ich sie aus. Das ist dann folgerichtig und schlau und entspricht auch dem Geist der Regeln.
Alle diese Überlegungen sind in einem (ideal gedachten) Erzählrollenspiel nicht vorhanden und völlig überflüssig. In einer Diskussionsgruppe eines Erzählrollenspiels würde es niemals eine Frage geben wie "Ist Wuchtschlag stärker als Finte?" oder "Welches ist der schwächste Zauber?" Die Regeln sind das Korsett, um die Geschichte zu erzählen. Ich würfele, um den Zufall entscheiden zu lassen oder die Stärken meiner Figur zu simulieren, und so herauszufinden, was passiert. Schaffe ich es, die Wache zu besiegen, oder nicht? Mir ist aber im Sinne der Erzählung im Grunde gleichgültig, ob es klappt, oder nicht. Beides treibt die Erzählung voran, beides macht Spaß. Im einen Fall folgt eine Szene, wo ich das Museum plündere, im anderen Fall folgt eine Szene, in der ich von der Wache verhört werde. Oder vielleicht eine Szene, in der weitere Wachen eintreffen und der Kampf umso spektakulärer wird.
Der Spielleiter muss hier gar kein Richter sein, aber er ist derjenige, der die Story im Kopf hat, sodass für mich als Mitspieler Überraschungen entstehen und ich nicht einfach völlig beliebig in irgendwelche Richtungen abdrifte (es sei denn, es handelt sich um ein spielleiterloses System). Deswegen kann der Spielleiter auch problemlos die Kontrolle abgeben und mich als Spieler erzählen lassen, was in einem konkreten Moment passiert. Er muss nur den Erzählfluss und die weiteren Szenen im Auge behalten.